Gebrauchte Musik

Jene achtziger Jahre

Hört man die Schallplatten, die neuerdings Schlager, Songs, Chansons aus den zwanziger Jahren wieder beleben, so überrascht, wie wenig in der ganzen Sphäre sich geändert hat. [...] der minder entwickelte Stand der Konsumentenkultur wird mißdeutet, als wäre jene Periode näher an den Ursprüngen gewesen, während sie in Wahrheit genauso auf Kundenfang zugeschnitten war wie 1960.
Theodor W. Adorno 1962 über Jene zwanziger Jahre und ihr Revival

Die Leute, die Anfang der Neunziger durch das Ausgraben von Easy Listening-Platten aus ihrer frühen Kindheit das Siebziger-Revival losgetreten haben, müssen sich heute um ihre gutgehenden Consultingfirmen kümmern und haben deshalb für solche Kindereien keine Zeit mehr. Dafür sind jetzt ihre jüngeren Geschwister dran, die sich 1983 mit dreizehn ihre ersten Platten gekauft haben. Die waren von Nik Kershaw und werden jetzt rechtzeitig vor dem dreißigsten Geburtstag nochmal ausgegraben.
Abends 80s-DJ, nachts risikobereiter Existenzgründer im Online-Bereich - sind wir das nicht alle? Bernd Spring ist abhängig beschäftigt und darüber hinaus Betreiber von Dhyana Records und hat anlässlich eines der sogenannten 80er-Popstars, der im März ein offizielles Comeback-Album auf den Markt brachte, den Sampler We Don't Care About the Haircut! A Tribute To Nik K. zusammengestellt.
"Warum ausgerechnet Nik? Weil er mein Verständnis von Pop-Musik wesentlich mitgeprägt hat - als 13jähriger seinen kommerziellen Höhepunkt erlebt, die Platten gekauft und immer wieder mal ausgegraben [...]".
In den Liner-Kommentaren der beteiligten Musiker herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass dieser kommerzielle Höhepunkt auch der künstlerische Höhepunkt von Kershaws Songwriting war. Das allein macht die Platte schon zu einem Standardwerk zu der Frage: Wie funktioniert Popmusik?
Nämlich als kommerzielles Kalkül, wie man möglichst vielen dreizehnjährigen oder achtzigjährigen unmündigen Kindern das Geld aus der Tasche ziehen kann. Erst diese kommerzielle Verbreitung eröffnet der Musik überhaupt das, was auch als ihre 'identitätsstiftende' Funktion bezeichnet worden ist. Denn nur durch dieses Kalkül ist es überhaupt möglich, dass größere Teile einer Altersgruppe dieselben Platten gehört und darauf in derselben Phase ihres Lebens bestimmte persönliche Inhalte übertragen haben.
Genau das tun nämlich die meisten der Beteiligten: auf die Blaupause vermeintlich durch und durch bekannter Oldies (nicht zufällig beziehen sich drei Viertel der Beiträge auf Kershaws bekannteste Hits Bring On the Dancing Girls, I Won't Let The Sun Go Down On Me und Wouldn't It Be Good) projizieren sie durch eigenwillig produzierte Coverversionen oder die Neuvertonung der vorhandenen Songtexte ihre je eigene musikalische Weltsicht. Wie funktioniert Popmusik also? Als kommerzielles Kalkül, als der kapitalistische Innovationszwang, der eine sich nie grundlegend ändernde gesellschaftliche Situation aus dem Fundus ihrer immergleichen Geschichte(n) heraus in anderer, neu verkäuflicher Form beschallen muss: der (soziale) Text mag gleich bleiben, nur der Sound ändert sich jede Saison, damit man's nicht so merkt, dass sich nichts wirklich ändert.
Die Beiträge dieser Platte arbeiten sich alle an diesem Aspekt von Popgeschichte ab: Guido Möbius, Jean Bach, Mr. Ebu und Column One feat. BlackJewishGays aktualisieren die Stücke durch ein zeitgenössisches elektronisches Gewand von Techno bis Drum'n Bass. Damit nehmen sie dem Umgang mit dem Achtziger-Mainstreampop auf wohltuende Weise jene weihevolle Nostalgie, für die z.B. das letzte Blumfeld-Album ein prominentes Beispiel liefert. Dort wird ja gerade versucht, durch ein möglichst exaktes Rekonstruieren des Sounds, den man als Jugendlicher in den 80ern gehört hat, zu einem 'wahren' Kern dieser kommerziell produzierten Musik und damit implizit auch zu Wurzeln der eigenen Identität vorzustoßen, die irgendwie gegen das kapitalistische Milieu, in dem Popmusik funktioniert, immun wären.
Eine solche Haltung, die einen 'guten' Pop im schlechten zu finden hofft, lügt sich in die Tasche: Popmusik ist nicht gut, obwohl sie kommerziell ist. Sie ist gut oder schlecht, und ob sie sich deswegen gut verkauft oder nicht, ist letztlich genauso sicher vorhersagbar wie ein Börsencrash - nämlich gar nicht. Aber ob sie 'sich durchsetzt' oder floppt - unter Marktbedingungen spielt sie sich immer ab, wie alles andere auch.
Wie funktioniert Popmusik also wirklich? Pit Przygodda's Elektrztpft, Bernd Spring, Yacøpsae, Inox Kapell und Anemone Tube streichen in ihren Beiträgen durch die gegenüber der wohlbekannten Synthipop-Produktion der sogenannten 'Originale' gezielt verfremdet wirkende Soundgestaltung die Tatsache heraus, dass es sich bei dem Material um schöne Songs handelt und die Verteufelung dieser Musik als 'schlecht, weil kommerziell' nur von einer Position außerhalb des bösen Kapitalismus möglich wäre. Die moralische Arroganz dieser Position ist aber genauso wenig haltbar wie die der immunen Identität.
Denn so funktioniert Popmusik: Gerade weil Tonträger an uns jugendliche Käufer gut zu vermarkten sind, werden sie zu integralen Bestandteilen unserer Kindheit und Pubertät. Die später oft beteuerte antikommerzielle Unschuld haben wir mit dem ersten Erwerb einer Schallplatte für Geld schon verloren. Vielleicht thematisieren deshalb die Beiträge von F.S.: Blumm und Andreas Scheinhütte direkt den Zusammenhang zwischen dem Popsong und seinem Trägermedium (Schallplatte bzw. Gitarren-Lernkassette). Wenn man diese 80er-Platten oder irgendwelche andere Musik im Rahmen eines Revivals immer nur unverändert wie heilige Texte abspielt, wird die eigene Vergangenheit zum Fetisch, wird der Revival-DJ zur Symbolfigur einer realitätsblinden Regression in die heile Welt der Kindheit. Der anonyme letzte Beitrag, datiert auf 1936, entlarvt diesen vermeintlich authentischen musikalischen Reflex einer kollektiven Kindheit als Konstrukt: Nik Kershaw war 1983 schon seit fünf Jahrzehnten Second-Hand, scheint er zu sagen.
Dem hält diese schöne und kluge Platte die vielleicht einzige befreiende Geste entgegen, die innerhalb der Popmusik möglich ist: das Spielen nicht nach, sondern mit den herrschenden Regeln. Wenn Bernd Spring aber in den Liner Notes schreibt, er beteilige sich selbst musikalisch an der Platte, "weil ich derjenige bin, der hier auch finanziell drinsteckt", spricht er die Regeln, denen sich Pop nicht entziehen kann (die 'Nicht-Kommerzialität' dieser LP wird nur durch Lohnarbeit in der kapitalistischen Wirtschaft möglich), offen an. Und eben das: dass sie den schönen Schein der Freiheit nicht zu wahren versucht, wo der Schein nur Lüge sein kann - das macht diese Platte so besonders schön.

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Gerald Fiebig