"'On my way,' and so forth"
Die Nebengeräusche auf Phil Ochs' Broadside Tapes Part I und das Problem Folk vs. Pop

Phil Ochs: All the News That's Fit to Sing (1964)Agnes Cunningham und Gordon Friesen haben 1964 die Liner Notes für Phil Ochs' erste LP All the News That's Fit to Sing geschrieben (der Titel ist dem Wahlspruch der New York Times nachempfunden: "All the news that's fit to print". Darüber, was nun fit zum Drucken ist oder nicht, könnte man natürlich endlos diskutieren...). Wahrscheinlich hatte Phil Ochs sie darum gebeten, weil sie die Songs, die er für diese Platte eingespielt hat, besonders intensiv kannten: die beiden gaben ab 1962 die Zeitschrift Broadside heraus (die, auch was ihre Herstellung angeht, wohl adäquat als Fanzine beschrieben ist - in den Liner Notes ist die Rede davon, dass die Hefte auf einer "mimeograph machine" abgezogen werden).
Was an diesem Fanzine aus der Sicht der Post-Punk-Popwelt überraschend wirkt, ist, dass dort Songtexte mit Noten abgedruckt wurden - und zwar, bevor es sie auf Platte gab.Phil Ochs In Broadside wurde also nicht (nur) über bereits als Tonträger käuflich erhältliche Musik geschrieben, sondern diese Musik zum ersten Mal, in Form gedruckter Noten, nicht als Aufnahme, veröffentlicht - viele Songs von Phil Ochs erschienen in Broadside, bevor er einen Plattenvertrag hatte. Sie erschienen dort, und das unterscheidet das Konzept dieses und anderer Zines aus dem so genannten Topical Song Movement von den meisten Fanzines späterer Epochen, als Ausgangsmaterial zum Selber-Spielen/Singen dieser Songs durch die LeserInnen.
Dieser bemerkenswerte Ansatz, der zumindest idealtypisch auf die Aufhebung der Distanz zwischen Performer und Publikum hinauszulaufen scheint, erklärt sich aus der Tradition, in der sich das Broadside-Umfeld offenbar sah: das des fahrenden Sängers, der "im Namen des Volkes" aktuelle (politisch-soziale) Themen aufgreift und Missstände anprangert. Mit anderen Worten: das Medium des so genannten Folk Songs, eines Ausdrucksmittels der "kleinen Leute", sollte zeigen, dass es auch in der Lage ist, die aktuellen Themen der 60er aufzugreifen - und nicht etwa durch die Heraufkunft der kommerziellen Popmusik seit dem Rock'n'Roll-Durchbruch 1955 zu einer historisch überholten Form geworden wäre. Die Publikation von Songs zum Nachspielen kann man also als den Versuch der Broadside-Macher verstehen, eine Folk-Community (künstlich) selbst zu schaffen, die Lieder der Broadside-Beiträger gezielt in eine mündliche Überlieferung einzuspeisen, die sich als kompatibel mit den - gegenüber den Zeiten, als das große Vorbild Woody Guthrie während der Weltwirtschaftskrise für die Wanderarbeiter sang - gewandelten Anforderungen einer primär städtisch geprägten Lebenswelt erweisen sollte.
Phil Ochs: I Ain't Marching Anymore (1965)Daher wurde das Topical Song Movement offenbar auch häufig mit dem Begriff "Urban Folk Movement" belegt; ein Begriff, über den Bruce Jackson in den Liner Notes zu Ochs' zweiter LP I Ain't Marching Anymore schreibt: "So often does that contradiction in terms, urban folk movement, appear in print nowadays that it is easy to forget that there is no such thing, nor has there ever been. Folk music needs a folk, a group of people with a community of interest such as one rarely finds in the streets of an American city or the stacks of a college library."
Mit anderen Worten, etwas direkter und leicht überspitzt: die Fan-Community des Topical Song Movement rekrutierte sich primär aus linken Studenten.
Dass das Anknüpfen an die eben skizzierte musikalische Tradition in den Augen des Broadside-Umfeldes ein Engagement für linke Politik in den Texten voraussetzt, geht aus den Notizen von Cunningham/Friesen sehr deutlich hervor. Und der Folk Song als Ausdrucksmittel (angeblich) breiter Bevölkerungsschichten wird dabei als an sich demokratisches Medium gesehen - genau darin grenzt er sich vom Popsong ab, der als das entfremdete, als Instrument der Massenmanipulation kalkulierte Produkt einer kapitalistischen Industrie gesehen wird. "There is an obvious difference in folksong and popsong styles", schreibt Bruce Jackson und definiert diesen Unterschied wie folgt: "one is expected to listen to the words of the former, one expects to wallow in the sentiment of the latter."
Phil Ochs Simon Frith hat in seinem großartigen Buch Performing Rites theoretisch aufgezeigt, dass diese ideologische Gegenüberstellung nicht haltbar ist - einerseits schlicht deshalb, weil sich das Bedeutungspotenzial eines Liedes nie auf den Text reduzieren lässt (was auch immer die Aussage des geschriebenen Textes sein mag, durch den gesungenen Vortrag zu Musikbegleitung gewinnt er Dimensionen, die sich der sprachlichen Logik entziehen); andererseits aber auch deshalb (ein Punkt, der aus dem erstgenannten resultiert), weil es in Songs nicht um die sprachliche Fixierung von Gefühlszuständen oder, in unserem Fall, politischen Überzeugungen geht, sondern um deren Ausdruck. Mit anderen Worten: ein Song kommuniziert den HörerInnen keine eindeutige These zu einem bestimmten Thema, dafür bietet er aber durch das Zusammenspiel von Text und Musik jeder HörerIn potenziell eine Vielzahl emotionaler Zugangswege zu dem Thema. (Deswegen wurden und werden ja auch Protestsongs geschrieben und nicht nur Protestflugblätter - um diesen oft verleugneten zusätzlichen Kommunikationskanal dazu zu nutzen, ein Publikum zu politischem Handeln zu motivieren.)
Das Großartige an Friths Buch ist, dass es die emotionalen Reaktionen auf Popmusik, die letztlich immer auch notwendig sind, um ein theoretisches Interesse an diesem Thema zu motivieren, selbst zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung macht - anstatt dieses vermeintlich "zu persöliche" Kapitel zu überspringen und gleich zu einer akademischen Analyse bestimmter Popthemen überzugehen. Und die Plausibilität seiner Analyse wird mir an den Songs von Phil Ochs besonders deutlich - wenn man die Texte (nur) gedruckt lesen würde, wären viele davon heute nur noch Dokumente politischer Kämpfe, die heute, zumindest aus einer nicht-US-amerikanischen Perspektive, nur noch Geschichte sind - der Kampf gegen den Vietnamkrieg oder die Demonstrationen für die Nominierung des Kandidaten Eugene McCarthy auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago 1968. Aber wenn Phil Ochs' Stimme versucht, mit der fiebrigen Hektik seines Gitarrenspiels Schritt zu halten, dann höre ich in den "tagespolitischen" Äußerungen dieser Songs einen Zorn und eine Verzweiflung an den herrschenden Zuständen, die ich gerne den heutigen Zuständen entgegenbringen möchte - und wenn das gelingen sollte, wird es zu einem guten Teil dieser Musik zu verdanken sein.
Die Broadside Tapes, die seit einigen Jahren ausschnittweise als CDs vorliegen, wurden aufgenommen, bevor Phil Ochs Platten aufnahm: sie dienten als ein akustisches Notizbuch, nach dem Agnes Cunnigham Ochs' Songs (bzw. deren Melodien - die Akkorde, die er spielte, muss er ja gekannt haben) für den Noten-Abdruck in Broadside transkribierte. Paul Kaplan, der hier für die Liner Notes verantwortlich zeichnet - das Genre scheint sich immer als ein Liner-Note-orientiertes verstanden zu haben ;-) - schreibt über die erste Veröffentlichung in der Serie: "Obviously, these are not tapes of studio quality. But the songs are good, some of Phil's best. And the performances are powerful."
Meiner Meinung nach enthält das Album aber auch einige seiner schlechtesten Songs - solche, die auf das Klischeebild des Folk Songs hereinfallen.
Phil Ochs: The Broadside Tapes Part I Andere dagegen sind derartig "poppig", dass sie den von Bruce Jackson auf Ochs' zweiter "offizieller" LP unterstellten Folk-vs.-Pop-Antagonismus einfach sprengen. Solche Widersprüche sind für Phil Ochs' Schaffen charakteristisch, und was diese frühen Aufnahmen so interessant macht, ist die Tatsache, dass man hier hören kann, wie seine romantisch-naive Vorstellung eines Songs, der per se radikaldemokratisch sein soll, wenn er nur "folkig" genug ist, mit dem Sound der gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird. Und das ist gerade der Tatsache zu verdanken, dass diese Bänder nicht im Studio aufgenommen wurden, sondern in Cunninghams und Friesens Wohnung.
Time Was ist ein Song, dessen Text auf eine politisch äußerst zweifelhafte Art eine heile, agrarische Welt beschwört, die in dieser idealisierten Form sicherlich nie erlebt wurde: "Time was when a man could have his land / He could farm it with his hands, he was free to make a stand / He could live a life of toil, with his future in the soil / But it was a long time ago". Das Stück ist eine einzige sentimentale Geste der Abwendung von der zeitgenössischen Welt - und sentimental daran ist insbesondere der Text. Damit stellt es Bruce Jacksons Formel "Folk-vs.-Pop = Aufklärerischer Text-vs.-Regressive Sentimentaltität" grundlegend in Frage.
Interessant dagegen ist die in den Liner Notes zitierte Äußerung Ochs' zu dem Lied: "I think the closest parallel to the song I've seen is a movie called 'Lonely Are The Brave,' with Kirk Douglas". Anstatt sich auf seine authentischen patriotischen Gefühle zu berufen, legt Ochs damit offen, dass auch seine urbane "Folk"-Sensibilität unabweisbar von Produkten der kommerziellen, populären "Kulturindustrie" geprägt ist (diesen Begriff hätten die Broadside-Leute zwar nicht verwendet, ihre Pop-Skepsis scheint seine Verwendung aber zu rechtfertigen). Später wird Ochs die Erkenntnis, dass zwischen seinem Hang zu kitschiger Revolutionsromantik und dem Konsum von Hollywoodkino ein Zusammenhang bestehen könnte, in luzider Selbstironie ausspielen - so etwa in der Ansage zu Ringing of Revolution auf seiner dritten, live aufgenommenen LP Phil Ochs In Concert:

I'll do a song, then, about revolution. A song about what's been true of all revolutions from the beginning - the French, the American. This is a fictional song, a cinematic song, you gotta picture this mansion on the top of the hill housing the last of the idle rich, the last of the bourgeois, the last of the folk singers, as they're being encircled tighter and tighter by the ringing of revolution. All the people on the inside spiritually resemble Charles Laughton and all the people on the outside physically resemble Lee Marvin. As a matter of fact, this song is so cinematic that it's been made into a movie directed by Otto Preminger. It stars Senator Carl Hagen as Ho Chi Minh; Frank Sinatra plays Fidel Castro; Ronald Reagan plays George Murphy; John Wayne plays Lyndon Johnson; and Lyndon Johnson plays God. I play Bobby Dylan; the young Bobby Dylan.

Auf der Broadside-Aufnahme wird Ochs' spätere Überwindung dieser Klischees jedoch von der materiellen Umwelt selbst vorweg genommen - während er von einer fantasierten vorindustriellen Vergangenheit singt, hupt auf der Straße vor der Wohnung, wo die Aufnahme stattfindet, zweimal ein Auto und verankert den Song wieder in der Gegenwart. Seinen Wert als rebellische Geste gegen die zeitgenössische Gesellschaft gewinnt er, wenn überhaupt, nur durch dieses Geräusch - was aber bedeutet: nur durch das Faktum der Aufnahme, denn in der Livesituation würde man als Zuhörer solche Geräsche ausblenden. In der Aufnahme werden sie dagegen zu einem Teil des Werkes, insofern sie unabweisbar in dessen Verlauf eingeflossen sind.
Dass die Verbundenheit zum populären (und per se kapitalistischen - oder doch nicht?) Medium Film mit Ochs' linker/demokratischer Gesinnung nicht nur zusammengeht, sondern die erstere möglicherweise eben sogar die leztere bedingt, wird noch deutlicher an Talking Pay T.V., einem Talking Blues, der laut Ochs' Ansage als (Radio-)Commercial im Auftrag einer Pay-TV-Firma in Denver geschrieben wurde. Mit deren Projekt, statt durch Werbeblöcke verseuchter Serien gegen Bezahlung "Broadway shows, heavy-weight fights / First-run movies every night" zu zeigen, kann Ochs als Filmfan sich offenbar durchaus identifizieren. Den trockenen Satz zu diesem Song in den Liner Notes hätte Ochs nur ironisch verstehen können: "Phil Ochs 'sells out.'" Von wegen: "Viewers of Denver, unite! ... / Nothing to lose but commercials."
Im letzten Satz von Talking Pay T.V. kann sich Ochs einen ironischen Seitenhieb gegen das Produkt seines Auftraggebers freilich nicht verkneifen: "Remember: ... families that pay together stay together." Erwähnenswert ist allerdings auch, dass auf Ochs' erstem offiziellem Album in Talking Vietnam zur Charakterisierung der pro-amerikanischen Machthaber in Vietnam der Satz verwendet wird: "Families that slay together stay together"...
Abgesehen von den interessanten politischen Implikationen, die sich aus dieser Mehrfachverwendung ableiten lassen, zeigt dieses Verfahren Phil Ochs als einen durchaus ökonomischen Songwriter, der sich durchaus bewusst ist, dass dieselbe (fast dieselbe!) Textzeile in unterschiedlichen Song-Kontexten ganz unterschiedlich funktionieren kann.
Obwohl man im Hintergrund eines Tracks die Schreibmaschine hört, auf der die Songs der nächsten Broadside-Ausgabe abgetippt werden - ganz als wäre Agnes Cunningham eine Musikethnographin, die die mündlich überlieferte Musik der selbsternannten Folk-Community für die Nachwelt verschriftet - , lenkt Phil Ochs' Vortrag doch ganz deutlich die Aufmerksamkeit darauf, dass es sich bei seinen Songs um Originalmaterial eines Autors handelt (was ja auch die vermeintlichen Folk Songs von Woody Guthrie schon waren: eben Woody-Guthrie-Songs) - nämlich immer dann, wenn er, statt den Refrain eines Songs zu wiederholen, den er bereits einmal vorgetragen hat, einfach nur "Chorus" oder "and so forth" sagt, um dann sofort die nächste Strophe zu singen. Dieses wohl auf kaum einem anderen Tonträger zu hörende Understatement verleiht den Performances in der Wohnung West 104 Street in New York City ihre Power: Ochs produziert sich nicht als Künstler-Ego, er tritt hinter dem Song zurück, den er quasi nur für die Zwecke der Transkription erläutert, anstatt ihn zu zelebrieren. Und er vermittelt einem das Gefühl, als hätte er nur sehr wenig Zeit, um all das zu sagen, was er zu sagen hat - ein Gefühl von Dringlichkeit.
Sozusagen als Gegenstück zu der oben erwähnten Autohupe hört man bei einigen der nüchterneren Politsongs im Hintergrund Vogelgezwitscher - angeblich handelt es sich dabei um den Papagei von Cunningham und Friesen. Dieses häusliche Detail gibt dem Ganzen etwas Tragisches, macht es doch hörbar, dass Phil Ochs hier den Bekehrten predigt - für ein Publikum singt, das seine politischen Überzeugungen im Wesentlichen teilt. (Billy Bragg, der sich spätestens mit dem Song I Dreamed I Saw Phil Ochs Last Night explizit in dessen Tradition stellte, versuchte den positiven, nichtkommerziellen, DIY-Aspekt dieses intimen Ambientes zu unterstreichen, indem er der FlexiDisc-Beilage seines 1985er-Songbooks, auf der er einige schwierige Griffe aus seinen Songs für interessierte Nachspieler erläutert, extra Vogelgezwitscher beimischte.) Die Tragik bleibt jedoch bestehen, weil sich diese Situation während Ochs' gesamter Karriere offenbar nie geändert hat - und als jene politisch interessierte "Folk"-Community sich im Mainstream der 70er auflöste, beendete dies nicht nur seine Karriere als Musiker, sondern letztlich auch sein Leben (Ochs erhängte sich 1976). Und das, obwohl er sich von Anfang an immer wieder um den Brückenschlag zu einem Pop-Publikum bemüht hat - nicht nur aus Gründen der agitatorischen Taktik, sondern weil sein Verständnis von Musik über die engen Grenzen der Folk-Ideologie hinausging. Davon zeugt der letzte Song auf Broadside Tapes Part I, eine Coverversion des Beatles-Songs I Shoulda Known Better, die von den anwesenden Folkies unter großer Heiterkeit, aber offenbar als Parodie goutiert wird - ein fundamentales Missverständnis, das Ochs zu folgender Erklärung veranlasst:
I only did that, you know, for - the main reason is that, er, to make the point that it's all not nonsense, that - I think, you know, the - in all of music, the - ... what's going on in folk music, I think the Beatles are the most exciting thing [Gelächter im Publikum] - no, really - musically going on and that's why I ... I always make a point about writing topical songs, and I always try to do that, but [...] the first song I did, the, er, That's What I Want to Hear, you know, is a very pop-oriented melody, which is why - that's why I did it, to show that pop-oriented songs aren't necessarily bad, but that's pretty exciting music, I think. [Gelächter im Publikum]

Mit diesem Dokument eines Missverständnisses endet das Album - und erklärt damit, warum die Songs von Phil Ochs, im Gegensatz zu der Topical-Song-Szene von damals, immer noch wirksam sind.

Umfangreiche Informationen (einschließlich Songtexten und Akkorden fast aller Ochs-Songs) und nützlicher weiterer Links finden sich hier. Ein biografischer Abriss zu Phil Ochs auf Deutsch findet sich hier.

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